Ich schaffe es nicht immer, Verständnis für das Verhalten anderer aufzubringen. Oft bin ich eher irritiert davon und genervt. Es fällt mir nicht schwer, dann (falsche) Schlüsse zu ziehen, ja den anderen gedanklich zu be- oder sogar verurteilen. Immer im Wissen, dass ich in dieser Situation natürlich nie so reagieren würde. Und dann gibt es sie, die augenöffnenden Momente danach: Ich erfahre irgendwann mehr über die Hintergründe, die bei meinem Gegenüber zu einem bestimmten Verhalten geführt haben oder erlebe sogar selber eine ähnliche Situation. Das Resultat: ich fühle mich ertappt und habe Schuldgefühle.
Gerade bin ich da praktisch mitten drin. Meine Frau ist für einige Tage nicht zu Hause und neben der Arbeit führe ich den Haushalt, koche vier Mahlzeiten am Tag und kümmere mich mental und organisatorisch um den Alltag meiner Kinder. Nun sitze ich am Abend da, physisch und mental müde, gereizt und mit dünnen Nerven. Aber halt, ist das nicht genau diejenige Stimmung, die mir zu dieser abendlichen Stunde auch manchmal bei meiner Frau auffällt und für die ich dann nicht immer Verständnis habe? Ertappt. Von aussen gesehen weiss ich, dass der Arbeitsalltag zu Hause mit den Kindern sehr intensiv ist. Aber da ich ihn nicht erlebe, habe ich schnell eine andere Sicht und es kann sich Unverständnis entwickeln.
Ich sehe in diesem Verhalten ein klares Muster, dass ich lernen möchte zu brechen, gerade auch im Alltag als Projektleiter und im Umgang mit meinen Arbeitskollegen, Kunden und Chefs. Ein indianisches Sprichwort wird in diesem Zusammenhang oft zitiert.
Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst.
Indianisches Sprichwort
Im Projektalltag findet für mich dieses ‹Schuhe wechseln› vor allem gedanklich statt. Indem ich aufmerksam bin, ehrliches Interesse am Gegenüber zeige, Fragen stelle oder einfach primär zuhöre. Je mehr ich so erfahre, desto kompletter wird mein Bild vom Gegenüber, desto eher schaffe ich es, Verständnis für ein Verhalten aufzubringen. Verständnis aufbringen heisst nicht, dass ich gleicher Meinung sein muss, aber es verändert meine innere Haltung, meine Beziehung zum Gegenüber und fördert einen harmonischen Umgang.
Manchmal gelingt es, das ‹Schuhe wechseln› auch am eigenen Körper zu erleben. Ich glaube, dass diese Erfahrung speziell prägend ist. Ich erinnere mich noch heute, wie ich in meiner Lehre die Kaffeemaschine gereinigt und Schnee geschaufelt habe. Als Resultat sehe ich diese Arbeiten noch heute nicht als selbstverständlich an. Ebenfalls erinnere ich mich noch gut an das erste Pissoire, dass ich im Klassenlager reinigen musste. Horror. Aber ich glaube, es hat zu Dankbarkeit geführt gegenüber denjenigen Personen, die das heute für mich tun. In meinen letzten Hotel-Ferien habe ich im WC all meinen Mut zusammen genommen und mich bei der Putzfrau dafür bedankt, dass das WC immer so sauber ist. Ihr Strahlen war durch die Hygienemaske sichtbar und wird mir immer in Erinnerung bleiben.
Verständnis füreinander, privat wie im Projektalltag führt zu gegenseitiger Annahme und gegenseitigem Respekt. Wem das zu theoretisch tönt, der soll sich doch einmal den aktuellen Ton und Umgang zum Thema geimpft / ungeimpft vor Augen führen. Was würde sich verändern, wenn alle in diesem Thema 100 Schritte in den Schuhen des anderen machen würden?
Kommentare
Florian
AuthorSchön reflektierender Beitrag, aber schade, dass du deinen Mut zusammen nehmen musstest, um der Putzfrau zu danken.
Ohne Menschen wie diese Putzfrau würde vieles nicht funktionieren und sie sind eben nicht nur ein nebensächliches Erscheinungsbild in unser aller Alltag, das man auch einfach ignorieren kann.
Sie haben unseren Dank unbedingt verdient. Wir würden sonst im eigenen Müll ersticken, weil wir uns zu schade oder zu wichtig sind, ihn selbst zu entsorgen und Sauberkeit zu schaffen. Dafür sind wir ja – böse gesagt – nicht bezahlt.
Ergo: Sei immer freundlich zu Putzfrau/Putzmann. Dein Verhalten diesen Menschen gegenüber spiegelt auch wider, wer du bist!
Michael Lutz
AuthorIch stimme dir bei. Zu oft wird unterschätzt, was andere Berufsgruppen für uns tagtäglich leisten und wie die Welt ohne sie aussehen würde. Dass ich Mut brauchte für meine Aussage führe ich auf fehlendes Selbstbewusstsein in diesem Moment zurück. Oft steht mir der Gedanke ‹Was denken wohl andere› selber im Weg. Übung macht den Meister.